Ausgabe 3/2019, Juli

WIdO-Themen

Die solidarische Pflegefinanzierung stärken

Die Langzeitpflege benötigt mehr und besser bezahltes Personal. Das führt zu der Frage, wie die Pflege künftig finanziert werden soll. Der Pflege-Report des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) beschäftigt sich auch mit dem Thema.

Im Juni 2019 haben die Bundesminister Franziska Giffey (Familie, Senioren, Frauen und Jugend), Hubertus Heil (Arbeit und Soziales) und Jens Spahn (Gesundheit) die Ergebnisse der Konzertierten Aktion Pflege vorgestellt. Danach soll eine Vielzahl von Maßnahmen den Personalengpässen in der Pflege begegnen und die Attraktivität des Berufs steigern. Finanzierungsfragen blieben vorerst ausgeklammert, doch klar ist: Ohne mehr Geld geht es nicht. Eine grundlegende Debatte zur Finanzierung des Pflegerisikos ist unumgänglich. Auch im Pflege-Report 2019 des WIdO steht die Frage im Zentrum, wie künftig für ausreichend Pflegepersonal gesorgt werden kann. Allerdings wird die Finanzierungsfrage hier nicht völlig ausgeblendet. In ihrem Beitrag „Zur Stärkung der Solidarität bei der  Pflegeversicherung“ widmen sich Stefan Greß, Dietmar Haun und Klaus Jacobs möglichen Reformansätzen. Dabei bewerten sie einen Bundeszuschuss zur sozialen Pflegeversicherung insgesamt eher skeptisch.

Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Frage nach der systemübergreifenden Solidarität in der gesetzlichen Pflegeversicherung, die aus zwei Zweigen besteht: der sozialen Pflegeversicherung (SPV) und der privaten Pflegepflichtversicherung (PPV). Das  Bundesverfassungsgericht hatte die entsprechende Zuordnung der Versicherten „unter dem Gesichtspunkt einer ausgewogenen Lastenverteilung“ im Jahr 2001 für sachgerecht erachtet. Die empirischen Analysen der Autoren zeigen, dass von einer ausgewogenen Lastenverteilung keine Rede sein kann. Dies galt bereits bei Einführung der Pflegeversicherung und hat sich bis heute nicht geändert. Besonders deutlich zeigt dies eine Simulationsanalyse zu einer einheitlichen gesetzlichen Pflegeversicherung (GPV) für das Jahr 2017. Aufgrund ihrer relativ hohen Einkommen hätten privat Pflegeversicherte in diesem Zeitraum einen mittleren Jahresbeitrag von 943 Euro geleistet.

Tatsächlich betrug ihr Durchschnittsbeitrag in der PPV aber nur 278 Euro. Auch wenn man berücksichtigt, dass beihilfeberechtigte Versicherte nur einen Teil des Pflegerisikos privat absichern müssen, ist die absolute Beitragsbelastung der Privatversicherten im Vergleich zu den Versicherten der SPV nicht einmal halb so hoch – obwohl ihr Einkommen im Durchschnitt mehr als das Doppelte beträgt. Eine Einbeziehung der Versicherten der PPV in die solidarische Finanzierung hätte die Versicherten der SPV im Jahr 2017 per Saldo um 5,8 Milliarden Euro entlastet.

Dietmar Haun, Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsbereichs
Gesundheitspolitik/Systemanalysen im WIdO

„Die unausgewogene Lastenverteilung im dualen System der Pflegeversicherung besteht bis heute fort – und gehört im Rahmen einer Reformdebatte auf den Prüfstand.“

Dietmar Haun, Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsbereichs Gesundheitspolitik/Systemanalysen im WIdO

Riskanter Einsatz von Reserveantibiotika

Antibiotika aus der Gruppe der Fluorchinolone werden seit den 1980er-Jahren in Deutschland eingesetzt. Gefährliche Nebenwirkungen haben dazu geführt, dass die Anwendung in der Europäischen Union stark eingeschränkt wurde.

Fluorchinolone sollen nur als Reserveantibiotika bei schweren Infektionen eingesetzt werden. Dies hat das im April 2019 abgeschlossene EU-Risikobewertungsverfahren veranlasst. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte empfiehlt, Fluorchinolone nur noch im Einzelfall
zu verschreiben. Zusätzlich sollen Zulassungeinschränkungen und drastische Warnhinweise zu den lang anhaltenden und möglicherweise irreversiblen Nebenwirkungen einen sorgsamen Umgang mit Fluorchinolonen gewährleisten. Diese Maßnahmen erfolgen spät: Bereits vor zehn Jahren hat die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA vor schweren Nebenwirkungen gewarnt.

Doch gerade diese Antibiotika werden in Deutschland im Vergleich sehr oft angewendet. Der GKV-Arzneimittelindex des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zeigt: Im Jahr 2018 wurden 25,6 Millionen Tagesdosen verordnet. Das entspricht einem Anteil von 8,2 Prozent aller Antibiotika-Tagesdosen. 3,3 Millionen Patienten wurden mit Fluorchinolonen behandelt. Gegenüber dem verordnungsstärksten Jahr 2010 mit 37,3 Millionen Tagesdosen ist das ein deutlicher Rückgang. Die Menge der Verordnungen erfüllt jedoch bei Weitem noch nicht die strenge Vorgabe,  Fluorchinolone nur im Einzelfall bei schwerwiegenden Infektionen einzusetzen.

Basierend auf Verordnungsdaten und epidemiologischen Studien hat das WIdO geschätzt, wie viele Patienten in Deutschland im Jahr 2018 einem zusätzlichen Risiko für die Nebenwirkungen der Fluorchinolone ausgesetzt waren. Das Ergebnis: Über 40.000 Nebenwirkungen wie Verwirrtheit, Unruhe, Sehnenrisse,  Gefäßschädigungen der Hauptschlagader und 140 kardiovaskuläre Todesfälle hätten durch die Verwendung anderer Antibiotika oder durch Antibiotikaverzicht vermieden werden können. Um den Einsatz der Fluorchinolone weiter zu reduzieren, ließe sich in digitalen Systemen eine verordnungsauslösende Diagnose während der Rezepterstellung nutzen, um Warnhinweise anwendungsgenau anwendungsgenau einzelnen Arzneimitteln zuzuordnen. Damit würden Ärzte beim Verschreiben direkt informiert und bei einer noch besseren Arzneimittelversorgung der Patienten unterstützt.

Der GKV-Arzneimittelindex im  WIdO analysiert den deutschen Arzneimittelmarkt, um zu einer hochwertigen und zugleich wirtschaftlichen Arzneimitteltherapie beizutragen. Die eindeutige Zuordnung  der Arzneimittel erfolgtdabei mithilfe der Anatomischtherapeutisch-chemischen (ATC)-Systematik, die Messung der verordneten Arzneimittelmenge anhand definierter Tagesdosen (defined daily doses, DDD). Diese Sytematik basiert wiederum auf dem international geltenden  ATC-System der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und wurde an die Situation des deutschen Arzneimittelmarktes angepasst und erweitert.

Die WIdO-Themen zum Herunterladen

Analysen – Schwerpunkt: Moderne Medizin

Das neue Gesundheits-Ich - souverän, selbstbestimmt und digital unterstützt?

Sven Meister, Fraunhofer-Institut für Software und Systemtechnik ISST, Dortmund

Die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen kommt nur schleppend voran. Im europäischen Vergleich ist Deutschland weit abgeschlagen. Das Bundesministerium für Gesundheit forciert deshalb mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) und dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) die Umsetzung digitaler Versorgungsketten. Neben ersten App-basierten Versorgungsangeboten seitens der Kostenträger bietet die elektronische Gesundheitsakte
einen Ausblick auf die für 2021 geplante Elektronische Patientenakte nach § 291a des Fünften Sozialgesetzbuchs (SGB V). Kritisch hinterfragt werden muss jedoch, inwiefern der Einzelne befähigt ist, sich souverän in dieser digitalen Versorgungswelt zu bewegen: Fehlende digitale Kompetenz bei den Leistungserbringern und fehlende Gesundheitskompetenz bei den Patienten gefährden den Erfolg einer digital unterstützten Gesundheitsversorgung.

Ethische Dimensionen der Digitalisierung im Gesundheitswesen

Klaus Wiegerling, Reinhard Heil, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse, Karlsruhe

Infolge der Digitalisierung findet eine Transformation des Gesundheitsverständnisses statt und es werden Hoffnungen auf die Überwindung der Schicksalhaftigkeit unserer physischen Existenz geweckt. Die Präventionsmedizin und damit der noch Gesunde rücken in den Fokus der medizinischen Entwicklung. Anhand metaethischer Bedingungen des ethischen Diskurses und der Leitwerte Würde, Autonomie und Subsidiarität werden Auswirkungen auf Institutionen, Gesellschaft und Individuum analysiert. So gerät zum Beispiel die Würde des Menschen in Gefahr, wenn dieser nur noch als Exemplifizierung einer Typologie in den Fokus kommt, nur noch Gegenstand eines Kalküls beziehungsweise Referenzobjekt eines Datensatzes ist. Autonomie wird infrage gestellt oder geschwächt, wenn Systeme für ihn existenzielle Entscheidungen treffen und eine Entmündigung von Patient und Arzt stattfindet. Patient, Arzt und Pflegekraft müssen an Entscheidungsprozessen maßgeblich beteiligt sein, weil sie allein die informatorisch prinzipiell nicht überwindbare Lücke zwischen Daten und Wirklichkeit schließen können.

Zur Transmission von Ergebnissen erfolgreicher Innovationsfonds-Projekte in die GKV-Versorgung

Steffen Bohm, Stefan Dudey, AGENON, Berlin

Erfolgreiche Projekte aus dem Innovationsfonds sollen nach Auslaufen der Förderung dauerhaft in die Versorgung aufgenommen werden. Im Ergebnis einer Aufarbeitung der zentralen Transmissionsverfahren der Regelversorgung und der selektivvertraglichen Versorgung sowie einer Analyse von Themen, Zielgruppen und Versorgungsleistungen von 81 in den ersten drei Wellen geförderten Projekten werden die sektorenspezifischen Transmissionsverfahren der Regelversorgung für neue Leistungen nur begrenzt in Betracht kommen. Für die häufig vorkommende Verknüpfung eines neuen Versorgungsansatzes mit sogenannten Kann-Leistungen der Krankenkassen sowie für vertikal höher integrierte Versorgungsansätze werden andere Lösungen gefunden werden müssen. Dabei erscheint es für Letztere nach den bislang vorliegenden Erfahrungen mit der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (§ 116 b SGB V), der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung
(§ 132 d SGB V) und der ambulanten Behandlung in stationären Pflegeeinrichtungen (§ 119 b SGB V) wenig zielführend, die Transmission in die Regelversorgung eng orientiert an der bisherigen Praxis auszugestalten. Vielmehr ist zu empfehlen, dass – möglichst frei von ordnungspolitischen Grundsatzdebatten – ein an  umsetzungspraktischen Aspekten ausgerichteter allgemeiner Rahmen geschaffen wird, der die Akteure vor Ort zwar in die Pflicht nimmt, ihnen aber die erforderlichen Freiräume gewährt, um sinnvolle und wünschenswerte fach-, berufsgruppen- und sektorenübergreifende Kooperationen unter Berücksichtigung der regionalen Gegebenheiten zu vereinbaren und umzusetzen.