Mandeloperation: Viele Patienten werden vermutlich weiterhin nicht leitliniengerecht behandelt

Leitlinie ohne nennenswerten Effekt

Berlin. Bei etwa der Hälfte der AOK-Versicherten, denen in den Jahren 2012 bis 2018 die Gaumenmandeln wegen einer „chronischen Tonsillitis“ operativ entfernt wurden, ließ sich keine adäquate ambulante Vorbehandlung mit Antibiotika nachweisen. Das hat eine jetzt veröffentlichte Auswertung der anonymisierten Daten von knapp 110.000 Mandelentfernungen (Tonsillektomien) ergeben, die das WIdO mit Daten aus der ambulanten ärztlichen Versorgung und mit Arzneiverordnungsdaten der betreffenden Patienten verknüpft hat.

„Unsere Auswertung zeigt, dass die konservative Therapie mit Antibiotika bei vielen Patientinnen und Patienten nach wie vor nicht ausgeschöpft wird, obwohl die 2015 veröffentlichte Leitlinie zur Behandlung der Tonsillitis dies ausdrücklich vorsieht“, sagt Christian Günster, Leiter des Bereichs Qualitäts- und Versorgungsforschung im WIdO. So habe sich der Anteil der Patientinnen und Patienten, die im Vorfeld der Operation gar nicht oder nur in einem Quartal mit Antibiotika behandelt worden sind, im Beobachtungszeitraum nur leicht von 50,4 Prozent im Jahr 2012 auf 44,9 Prozent im Jahr 2018 reduziert. Ein hoher Anteil der Betroffenen sei zudem vor der OP gar nicht oder nur in einem Quartal wegen Halsschmerzen ambulant behandelt worden. Dies betraf im Jahr 2012 etwa ein Viertel (26,6 Prozent) und 2018 immerhin noch ein Fünftel (21,0 Prozent) der Patientinnen und Patienten.

Insgesamt deutlicher Fallzahl-Rückgang bei Mandelentfernungen

Insgesamt ist im Beobachtungszeitraum von 2012 bis 2018 zwar ein deutlicher Fallzahl-Rückgang bei den Mandelentfernungen um 50,3 Prozent festzustellen. Nach der Veröffentlichung der Tonsillitis-Leitlinie im August 2015 hat sich diese Entwicklung etwas verstärkt. Junge Patienten unter zehn Jahren waren am stärksten vom Rückgang der Fallzahlen betroffen. „Das deutet darauf hin, dass die Leitlinie unter quantitativen Aspekten einen bereits vorbestehenden Trend etwas beschleunigt hat. Allerdings ließ sich in unserer Auswertung kein relevanter Einfluss der Leitlinie auf die ärztlichen Behandlungsmuster nachweisen“, so Prof. Dr. Jochen Windfuhr, Studienautor und Chefarzt der HNO-Klinik Mönchengladbach. So habe eine Auswertung zum zeitlichen Abstand zwischen der Antibiotika-Therapie wegen Halsschmerzen und dem Operationstermin ergeben, dass sich die Versorgung zwischen 2014 und 2018 kaum verändert habe. „Die Daten der ambulanten Vorbehandlung der Tonsillektomierten standen häufig im Widerspruch zu der Diagnose einer ‚chronischen‘ Mandelentzündung“, so Windfuhr. Laut Leitlinienempfehlung spielt der Eingriff als Therapieoption erst eine Rolle, wenn sich mindestens drei antibiotikumpflichtige Mandelentzündungen in zwölf Monaten ereignet hatten.

Auswertung der Vorbehandlung von 109.895 Krankenhausfällen

Basis der Datenauswertung waren 115.839 Krankenhausfälle von AOK-Versicherten, bei denen von 2012 bis 2018 eine Mandelentfernung wegen chronischer Tonsillitis (ICD-10 J35.0) durchgeführt wurde. Davon konnten 109.895 Fälle über den Zeitraum vom Quartal, in dem die OP stattfand, bis zum vierten Quartal vor der Operation ausgewertet werden. Diese fünf Quartale wurden im Hinblick auf die Behandlung wegen Halsschmerzen beziehungsweise mit Antibiotika therapierten Halsschmerzen betrachtet.

Die Ergebnisse der Auswertung sind in der Fachzeitschrift „HNO“ veröffentlicht worden: Windfuhr JP, Schmuker C, Günster C. Halsschmerzen als Operationsindikation vor und nach Publikation der Tonsillitis-Leitlinie: Longitudinalstudie mit 115.839 Tonsillektomiefällen. HNO 2020. Epub ahead of print. PMID: 32945897.

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